ISO 27001 Compliance: Warum 100 % Erfüllung nicht zielführend ist
Was ISO 27001 Compliance im Alltag wirklich bedeutet
„Ganz ehrlich – das werden wir nie zu 100 % erfüllen. Warum dann überhaupt anfangen, ein Informationssicherheits-Management-System (ISMS) nach ISO 27001 aufzubauen?“
Ich sitze mit einem IT-Leiter in einem mittelständischen Maschinenbauunternehmen. Es geht um die Vorbereitung auf ein ISO-27001-Audit. Er wirkt angespannt – nicht, weil das Thema neu für ihn wäre, sondern weil es wieder einmal um eine dieser Listen geht. Anforderungen, Controls, Dokumentationspflichten. Alles sei wichtig, das verstehe er. Aber er schaut mich ernst an und sagt: „Das ist doch realitätsfern. Wir haben drei Leute in der IT – wie sollen wir das alles nebenbei schaffen?“
Solche Sätze höre ich oft. Und sie bleiben hängen. Nicht, weil sie falsch wären. Sondern, weil sie einen wunden Punkt treffen: Die Kluft zwischen dem, was Normen vorgeben – und dem, was im Alltag möglich ist.
Was viele Verantwortliche beschäftigt, aber selten offen ausgesprochen wird: Muss ich wirklich alles umsetzen, was im Standard steht? Oder darf ich auch bewusst sagen: Das passt bei uns (noch) nicht – und das ist okay so?
Diese Frage ist nicht nur berechtigt. Sie ist zentral.
Warum der Wunsch nach 100 % oft mehr schadet als hilft
Viele Verantwortliche – gerade in kleinen und mittleren Unternehmen – starten mit einem klaren Ziel: „Wir wollen alles richtig machen.“ Sie lesen die ISO 27001, arbeiten sich durch Controls und Anforderungen, besorgen sich Vorlagen oder holen externe Beratung. Und spätestens beim ersten internen Audit kommt der Frust: Es fehlt hier eine Dokumentation, dort ein Verfahren, hier ein Review-Protokoll. Das Gefühl: Wir sind noch lange nicht compliant.
Was dahinter steckt, ist ein weit verbreitetes Missverständnis: dass eine Norm wie ISO 27001 oder NIS2 eine Art Checkliste sei, die vollständig abgehakt werden muss. Doch so funktioniert nachhaltige Informationssicherheit nicht – und schon gar nicht ein wirksames ISMS, das den Annex A der ISO 27001 in der Praxis umsetzt.
Normen formulieren Anforderungen an ein System, nicht an eine lückenlose To-do-Liste. Und ein ISMS soll die angemessene Sicherheit ermöglichen – nicht die perfekte. Trotzdem entsteht in vielen Projekten dieser stille Druck: Alles muss vollständig, formal richtig und sofort umsetzbar sein.
Ich habe das oft beobachtet:
- Unternehmen investieren Wochen in die Asset-Erfassung – ohne dass je klar ist, wofür sie das konkret brauchen.
- Maßnahmen werden eingeführt, obwohl sie in der Realität niemand lebt.
- Oder es wird auf Audits hingearbeitet, wie auf eine Klassenarbeit – nicht als Teil einer strategischen Entwicklung.
Die Folge: Die Energie fließt in die Form, nicht in die Wirkung.
Und das ist gefährlich. Denn wenn Sicherheit nur auf dem Papier gut aussieht, aber nicht im Alltag verankert ist, entsteht eine Scheinsicherheit. Gleichzeitig verlieren die Beteiligten den Glauben daran, dass Normen überhaupt helfen – statt als Rahmen für echte Verbesserung wahrgenommen zu werden.
Deshalb braucht es einen Perspektivwechsel. Gerade für KMU ist eine realistische Umsetzung von ISO 27001 entscheidend, um ISO 27001 Anforderungen im Alltag wirksam und praxisnah umzusetzen. Nicht weniger Anspruch, aber ein anderes Verständnis davon, was „richtig“ bedeutet. Und wann es sinnvoll ist, eine Forderung bewusst (noch) nicht vollständig umzusetzen – ohne dabei die Wirksamkeit aus den Augen zu verlieren.
Was in der Praxis funktioniert: Wirkung vor Vollständigkeit
Wenn ich eines gelernt habe in über 15 Jahren Beratung, dann das: Ein wirksames ISMS erkennt man nicht an der Anzahl der erfüllten Controls – sondern daran, wie gut die Verantwortlichen ihre Entscheidungen erklären können. Nicht jede Lücke im ISO 27001 Compliance-Prozess ist ein Risiko. Aber jede Maßnahme ohne Klarheit und ohne risikobasierte Einordnung ist eins.
Viele Unternehmen, mit denen ich arbeite, haben irgendwann verstanden: Es geht nicht darum, alles umzusetzen – sondern das Richtige. Und das bedeutet auch, Entscheidungen zu treffen, was nicht gemacht wird. Aber eben nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Klarheit.
Ein Beispiel:
Ein Unternehmen mit knapp 100 Mitarbeitenden entscheidet sich bewusst, keine vollständige Asset-Datenbank zu führen – zumindest nicht im klassischen Sinn. Stattdessen gibt es eine priorisierte Liste der wichtigsten Systeme, regelmäßige Plausibilitätsprüfungen durch die IT und klare Ansprechpersonen. Formal gesehen: Lücke. Praktisch gesehen: gelebte Verantwortung.
Oder ein anderes Beispiel:
Statt sofort eine formalisierte Schulung zu entwickeln, startet ein Unternehmen mit internen Mini-Sessions, in denen Abteilungen ihre konkreten Fragen zu Informationssicherheit klären – dokumentiert wird nur das Wichtigste. Der Effekt: Höhere Beteiligung, bessere Verankerung. Und der Schulungsprozess wächst aus der Praxis heraus, nicht aus der Pflicht.
Solche Lösungen entstehen, wenn man sich traut, Normanforderungen als Orientierung zu verstehen – nicht als starre Checkliste. Es geht darum, den Sinn hinter der Anforderung zu erkennen: Was soll hier eigentlich geschützt werden? Was ist unser Risiko? Was brauchen wir wirklich, um handlungsfähig zu sein?
Ein einfaches Werkzeug, das ich oft empfehle, ist diese kleine Reflexionsmatrix:
Frage | Ziel |
Was verlangt die Norm? | Verständnis des Wortlauts |
Warum ist das relevant für uns? | Kontext und Risiko prüfen |
Was tun wir heute schon? | Bestehende Maßnahmen anerkennen |
Was fehlt – und warum? | Lücken bewusst einordnen |
Was wäre ein sinnvoller nächster Schritt? | Priorisierung ermöglichen |
Mit solchen Fragen gelingt es vielen, den Fokus zu verschieben – weg von der Angst, nicht compliant zu sein, hin zu einem strukturierten Umgang mit dem, was machbar und sinnvoll ist. Denn das Ziel ist nicht „alles“, sondern „wirksam“.
Übrigens: Auch Auditorinnen und Auditoren schätzen diese Haltung, wenn sie ehrlich und nachvollziehbar begründet ist. Wer zeigen kann, dass eine Entscheidung bewusst getroffen und risikobasiert begründet wurde, handelt im Sinne der Norm – auch ohne 100 %.
Was Du mitnehmen kannst
100 % Compliance ist kein realistisches Ziel – und meistens auch kein sinnvolles. Wer ein Informationssicherheits-Management verantwortet, muss nicht überall perfekt sein. Ziel ist nicht formale Vollständigkeit, sondern die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen nach ISO 27001 und NIS2. Sondern klar entscheiden, wo Wirkung zählt, wo Risiken liegen und wo bewusst reduziert werden darf.
Das bedeutet nicht, Anforderungen zu ignorieren. Es bedeutet, sie in den eigenen Kontext zu übersetzen. Und damit Verantwortung ernst zu nehmen – nicht im Sinne von Pflichterfüllung, sondern im Sinne einer klugen, risikobasierten Umsetzung.
Was ich Dir mitgeben möchte:
- Normen sind kein Selbstzweck. Sie helfen, die richtigen Fragen zu stellen – nicht, die richtigen Kästchen anzukreuzen.
- Sichtbare Lücken sind besser als versteckte Überforderung. Wenn Du begründen kannst, warum etwas (noch) nicht umgesetzt ist, bist Du weiter als viele, die sich durch formale Vollständigkeit absichern wollen.
- Wirkung entsteht durch Priorisierung. Wer alles gleichzeitig macht, macht oft nichts richtig.
Drei Fragen, die Dir bei der Reflexion helfen können:
- Wo versuchen wir, perfekt zu sein – obwohl „gut“ reichen würde?
- Welche Forderung aus der Norm stresst uns regelmäßig – und warum eigentlich?
- Haben wir ein gemeinsames Bild davon, was „angemessen“ in unserem Kontext bedeutet?
Was Du jetzt tun kannst
Quick-Check:
Gibt es Normforderungen, die Euch regelmäßig blockieren?
Habt Ihr dokumentiert, warum bestimmte Anforderungen aktuell nicht erfüllt sind?
Priorisiert Ihr Maßnahmen nach Risiko oder nach Normnummer?
Regekwerksbezug: Relevant für ISO 27001 Annex A.5 (Policies), A.6 (Organisation), A.8 (Asset-Management), sowie NIS2 Risikomanagement-Grundlagen.
Falls Ihr 100 % Erfüllungsdruck bei Eurer ISO 27001 Compliance verspürt: Überlegt gemeinsam, welche Maßnahmen tatsächlich Wirkung haben und welche aktuell bewusst verschoben werden können – risikobasiert, nachvollziehbar und im Einklang mit Eurem ISMS.
Hinweis zur Einordnung
Dieser Erfahrungsartikel basiert auf realen Beobachtungen und typischen Praxismustern. Die beschriebenen Maßnahmen können Orientierung bieten – sie ersetzen jedoch keine vollständige Umsetzung regulatorischer Anforderungen (z. B. gemäß NIS2, ISO 27001 oder branchenspezifischer Standards).
Wenn Dein Unternehmen unter die NIS2-Richtlinie fällt, sind zusätzliche strukturierte Analysen, dokumentierte Verfahren und ein systematischer Aufbau der Sicherheitsorganisation erforderlich.